Westfalenpost 05.08.2004
Die beiden folgenden Artikel werden im Oktoberheft der Zeitschrift "Uni
Siegen aktuell" erscheinen.
Steffen Schwietzer
Cymru/Wales 2004:
Erlebte Landeskunde kombiniert mit ergiebiger
Projektarbeit
Siegener Lehramt- und Bachelor-Studierende auf Exkursion in Wales
Die Mehrheit der europäischen Bevölkerung bereitete
sich daheim auf die Fernsehübertragung des EM-Eröffnungsspiels
vor. Doch eine Gruppe abenteuerlustiger Anglistik-Studierenden schaffte
es tatsächlich, sich zeitweise diesem Spektakel zu entziehen und
auf einen einwöchigen Aufenthalt auf die Britische Insel zu begeben.
Morgens um 10 Uhr ging es in Siegen los, über den Hafen Zeebrugge
via England nach Bangor/Wales (oder auf walisisch „Cymru“),
wo sie nach zwei Tagen endlich ankamen.
Die Siegener Anglistik- und Bachelorstudierenden, mit den Koordinatoren
und Anglistik-Lehrkräften Phil Mothershaw-Rogalla und Dr. Cathy Waegner
an ihrer Seite, trafen aber noch rechtzeitig zum Beginn des Klassikers
Frankreich gegen England am Campus der University of Wales in Bangor ein.
Dort bezogen sie in den hauseigenen „halls of residence“ Quartier
und erlebten wie die Waliser Studierenden im Uni-Pub den Untergang David
Beckhams und ihres Erzrivalen Englands feierten.
Da das runde Leder ja vermeintlich allerorts zur Völkerverständigung
beitragen soll, lässt sich vom Fussball trefflich die Brücke
zu einem der Eckpfeiler dieser Exkursion schlagen: dem Verhältnis
der Waliser zur EU und dem großen britischen Bruder. Was denken
die Waliser eigentlich über die Engländer?
„Manche bezeichnen die Engländer als arrogant und beklagen,
dass sie Witze über das Walisische machen“, so Brandy Llenos,
der in Wales neben seinen empirischen Studien auch ein kunstvolles Tagebuch
der Fahrt anfertigte. Brandy, ein gebürtiger Philippine, studiert
in Siegen "Language and Communication" (BA) und interviewte
auf der Fahrt rund 16 WaliserInnen aller Altersstufen zu folgenden Themen:
dem Euro, dem Walisischen bzw. der Bilingualität an den Waliser Schul-
und Geschäftsleben sowie eben dem Verhältnis zu England. Zu
Letzterem äußerte sich der 19-jährige Bangor-Student Amajoel
lakonisch: „English people seem to have invaded Wales. There was
a Welsh town that was completely flooded to create a reservoir for people
in Liverpool and we didn’t like that“. Bei einer Einschätzung
zu einem Beitritt zur Europäischen Union hält man sich in Wales
bedeckt. Der 58-jährige Barkeeper Brinley wird mit einer Aussage
zitiert, die man auch als Wink mit dem Zaunpfahl an Schröder und
Chirac interpretieren kann: „There’s just no consensus on
it. 94 percent of the people of this country do not want to join Euroland
for the simple reason that Germany and France step on too many rules”.
Zwischen Siegener und Bangor Studenten indes klappte die Verständigung
prima. Auf den Studentenbuden wurde das Ritual der „soup parties”
zelebriert. Dabei ging es den Studenten darum, abseits der Projektarbeit
bei einer gepflegten Fünf-Minuten-Terrine einander näher zu
kommen. Abends bot dann das Uni-Pub der „halls of residence“
mit dem gern angenommenen Freizeit-Duo von Bier und Billardtisch genügend
Abwechslung.
Die bilinguale Situation in Wale war ein weiterer, zentraler
Gegenstand der Studenten-Projekte. „Welsh“ ist insbesondere
im konservativen Norden von Wales eine Bastion und rangiert oft als Muttersprache
vor dem Englischen (als erster Fremdsprache). Im Süden ist man liberaler
und die englische Sprache hat dort eine ebenbürtige Position, wie
Ergebnisse der Studenten zeigen. Die Schulprojektgruppe beschäftigte
sich auf der Reise mit dem walisischen Schulsystem und besuchten drei
Schulen, unter anderem die Secondary School „Ysgol Tryfan“
in Bangor, in der alle Schulfächer – außer Englisch –
auf Walisisch unterrichtet werden. Primarstufenstudentin Ina Meuler machte
diese Schulbesuche sogar zum Gegenstand einer Seminarhausarbeit.
Andere Studenten erschufen in ihren Gruppenarbeiten kunstvolle Sound-Collagen
mit Bildern, drehten eine Exkursionsfilm oder kreierten einen Multimedia-„City
Guide“ für Cardiff. Ein besonderer Höhepunkt war das CAT
(Center for Alternative Technology), das international renommierte Zentrum
für alternative Energien, welches die berufsbezogene Komponente (wie
z.B. Fachsprache) der Studienfahrt betonte. Die Studenten lobten des Weiteren
die billigen Second-Hand-Bookstores sowie die Jazz-Szene in Cardiff, eine
Stadt, die sich mit dem inoffiziellen Titel „Europe’s youngest
capital“ schmückt. Magisterstudent Christoph Meinecke war mit
der Erstellung einer Webseite betraut. Unter dem Link http://www.fb3.uni-siegen.de/anglistik/Wales/index.htm
kann man ab sofort in die Welten der Castles, Cardiff Pubs und des Snowdonia
National Parks eintauchen.
Trotz der vielfältigen „erlebten Landeskunde“
kam für die Exkursions-Teilnehmer der Fußball weder auf dem
Platz noch vor dem Fernseher zu kurz, und obwohl weder Wales noch Deutschland
Europameister geworden ist, bleiben die Exkursion und die EM 2004 für
alle Teilnehmer unvergesslich.
Hanno Heuel
Anglistik-Studenten der Universität Siegen zu Gast bei Ehrenprofessor
Colin Baker in Bangor / Wales
Die Projektarbeit der Wales-Exkursion hatte für die Mitglieder der
Gruppe „Wales as a bilingual country“ einen ganz besonderen
Leckerbissen. Professor Colin Baker, seines Zeichens weltberühmter
Zweisprachler an der Universität Bangor, stand ihnen in einem Interview
Rede und Antwort.
So gelangten sie durch die fachkundige Auskunft des Ehrenprofessors an
detaillierte Informationen zur sprachlichen Situation in Wales. Dort wird
neben der englischen Sprache auch von 25% der Bevölkerung die walisische
Sprache gesprochen. Da diese zur Sprachfamilie der keltischen Sprachen
gehört, unterscheidet sie sich von der englischen Sprache beträchtlich
und ist daher für Waliser, die nur mit der englischen Sprache aufgewachsen
sind, sehr schwierig zu erlernen.
Allerdings ist für jedes Schulkind in Wales neun Jahre lang eine
halbe Stunde Walisischunterricht Pflicht. Doch um das Überleben einer
Minderheitensprache zu sichern, bedarf es laut Professor Baker viel mehr
als nur Schulunterricht:
„Man muss sowohl Kindern als auch Eltern klarmachen, warum die Kinder
die walisische Sprache lernen sollen. Man muss ihnen Gründe dazu
geben. Wenn diese Gründe wegfallen, wird die walisische Sprache sehr
schnell sterben.“
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Minderheitensprachen in Europa sieht
Professor Baker die walisische Sprache jedoch auf dem Vormarsch. Für
viele – insbesondere hochangesehene - Berufe ist Zweisprachigkeit
in Wales mittlerweile unentbehrlich. Außerdem erkennt er ein Stück
walisische Identität darin: „Sprachenvielfalt ist Ideenvielfalt!“
ist Professor Bakers Erkenntnis. „Stirbt eine Sprache, dann sterben
auch die damit verbundenen kulturellen Aspekte. Es ist, als ob eine ganze
Bibliothek abbrennt!“
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